Die ersten Sonnenstrahlen durchbrechen das immergrüne, dichte Blätterdach. Tau tropft von den großen Palmenwedeln der Açaí Palme (1) auf den dicht bewachsenen Waldboden.
Doch auch an diesem Morgen weicht die Frische des Morgengrauens vor der drückenden Hitze.
Immer tiefer dringt der sandige Weg in den geheimen Garten vor. Brettwurzeln und Spinnweben versperren von Zeit zu Zeit den Weg. Inmitten des Waldes ist der Himmel kaum noch zu sehen. Zikaden und ein einsamer Vogel singen ihr Lied.
Weiße Milch tropft aus den Wunden der „Amazonas-Kuh“. Nicht Kautschuk (2), sondern schmackhafte Milch gibt der Wald dem, der den Sovera-Baum findet. Der Geschmack kleiner, weißer Amarescla-Samen (3), die aus knallroten Schalen hervorschauen, ruft Erinnerungen an Zuckerwatte wach.
Süß schmeckt auch der Honig der stachellosen Biene und bitter die Rinde des „Malaria-Baums“ (4).
An einer Stelle des Waldes bedecken kleine rote Beeren den Boden. Die Blätter der Pflanze reinigen die Leber bei Gelbsucht. Der Name der Pflanze bleibt wie vieles andere ein Geheimnis der Indios. Manchmal gibt der Wald seine Geheimnisse auch bereitwillig preis. Zweilappig nierenförmig sind die Blätter, aus denen ein Tee gegen Nierenkolik gekocht werden kann (5).
Die zerkauten Blattstiele der Jaborandi-Blätter (6) brennen auf der Zungenspitze. Für kurze Zeit ist die Zunge wie betäubt, bevor das Wasser im Mund zusammenläuft.
Blätter, wie Schlangen mit heller gefärbten Unterseiten, retten zwar nicht vor dem Tod, doch verlängern sie das Leben um wenige Stunden bei einem potentiell tödlichen Biss, so dass ein Arzt vielleicht noch erreicht werden kann.
Die Rinde des Mädchenbeinbaums“, der Pele-de-Moça“ (7) ist seidig glatt. Auch sie ist Medizin, Malaria und Leishmaniose soll sie vertreiben.
Alles was du brauchst, wirst du im Wald finden, hören wir. Reines Wasser fließt aus Lianen und hohlen Bambusrohren. Wer eine Machete hat und es schafft, an die castanha-de pará (8) zu gelangen wird keinen Hunger leiden müssen. Die duftende Rinde des Campherbaums (9) muntert auf und lindert Erkältungen.
Fruchtig sauer und doch fremd schmecken die Cupuaçu- (10) und Cajá-Früchte (11). Doch nicht von jedem Baum ist gut zu essen, denn auch giftige Pflanzen locken mit bunten Früchten.
Die Indios sind nicht mehr da, aber Alfredo, unser Guide hat ihr Wissen bewahrt und an uns weitergegeben. Auch die Sprache seiner Vorfahren spricht er fehlerfrei, obwohl er nie dort war, in Deutschland.
Ein fernes Donnergrollen ist zu hören. Einen Moment lang scheint der Wald den Atem anzuhalten. Dann ist er da, der Regen, und alles versinkt in einem dunklen warmen Rauschen.
Manche der Arzneipflanzen konnten auch identifiziert werden:
1. Die Früchte der Açaí-Palme (Euterpe oleracea Mart.; Arecaceae) boomen aufgrund ihres Gehalts an Antioxidantien und Eisen als Superfood in Europa. Dort sind die leicht verderblichen Beeren allerdings nur in Form von gefriergetrockneten Pulvern und Säften erhältlich.
2. Der echte Kautschukbaum (Hevea brasiliensis; Euphorbiaceae) stammt aus Brasilien
3. Amarescla; Tetragastris altissima (Aubl.) Swart.; Burseraceae
4. Der Name des roten Chinarindenbaums (Cinchona pubescens (Vahl.); Rubiaceae) stammt wahrscheinlich aus der Quechua Sprache. Quina-quina bedeutet so viel wie „Rinde der Rinden“. Die grau bis rötlich graue Rinde enthält das bitter schmeckende Chinin. Dieser war der erste Wirkstoff gegen Malaria und wird teilweise bis heute eingesetzt. In niedrigeren Konzentrationen kommt Chinin auch in Erfrischungsgetränken vor.
5. Die nierenförmigen Blätter gehören möglicherweise zur Gattung der Bauhinien; Fabaceae.
6. „Jaborandi“ (Pilocarpus pennatifolius; Rutaceae) bedeutet so viel wie „vermehrter Schweiß“. Die Blätter enthalten Pilocarpin, welches unter anderem die Speichelsekretion anregt. Zudem wird es in Form von Augentropfen bei erhöhtem Augeninnendruck (Grüner Star) eingesetzt.
7. Der wässrige Rindenextrakt des Mädchenbeinbaums, Pele-de-moça oder auch Pau-mulato (Calycophyllum multiflorum; Rubiaceae) wird traditionell bei Malaria und Leishmaniose eingesetzt.
8. Die Nüsse des Paranussbaums (Bertholletia excelsa; Lecythidaceae) enthalten besonders viel Selen und ungesättigte Fettsäuren.
9. Das Holz des Campherbaums (Cinnamomum camphora L.; Lauraceae) enthält ätherische Öle, die bei einer Erkältung und anderen viralen Infekten eingesetzt werden können.
10. Cupuaçu: Theobroma grandiflorum; Malvaceae
11. Cajá: Spondias mombin; Anacardiaceae
Cathrin Hauk
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