Die Fahrt bis Alta Floresta überstanden wir und kamen durchgeschüttelt in der noch jungen Stadt an. Hungrig stürzten wir uns auf das Frühstücksbuffet, genossen den Segen jedoch nur kurz und waren schon bald wieder unterwegs.
Ein geländetauglicher Omnibus nahm uns und unser Gepäck auf und ratterte auf einer Naturstraße los in Richtung Urwald. Was wir am Vortag als Schlaglochballett bezeichnet hatten, war nun einer Buckelpistenpolka gewichen. Löcher in der Größe des allgegenwärtigen VW-Käfer säumten den Weg.
Da der natürliche Primärwald stetig mehr zurückgedrängt wird, fuhren wir noch immer durch weitgehend entwaldetes Gebiet. Alta Floresta bildete bis vor kurzem die Grenze zum Amazonasregenwald. Die Soja- und Rinderzuchtbetriebe treiben aber die Schneise immer weiter in Richtung Norden. Auch der europäische Wunsch nach ökologischem Biosprit sorgt hier für den enormen Waldverlust.
- Urwaldreste auf dem Weg Richtung Norden
Foto: PU
Rinderweiden und vereinzelte Urwaldriesen bestimmten das Bild. Einige dieser Urwaldriesen dürfen per Gesetz nicht gefällt werden. Wird jedoch die Begleitflora rund um diese Bäume herum abgeholzt, so stehen diese Bäume solitär und sind nicht mehr lebensfähig. Passives Abtöten also. Beim Paranussbaum etwa.
Die Straße wurde enger, eine letzte kleine Landebahn kündigte den Urwald an. Durch die offenen Fenster des Busses peitschten mittlerweile die Äste der heranrückenden Sträucher und Urwaldbäume. Manch Insekt fiel dabei in den Bus und sorgte bei einigen zartbesaiteten Biologen für ausgelassene Hysterie, allerdings erst ab einer Länge von 6 cm.
Der Bus war in der lange erwarteten Sackgasse angekommen. Vor uns der Fluss Teles Pires. Nur ein einziger Abzweig ermöglichte dem langen Fahrzeug das Wenden. Aussteigen, Ausladen und das Anlegen des Mückenschutzes gingen sehr schnell. Auch der Bus wurde bereits gewendet. Immer wieder fuhr er sich fest und musste dann mit vereinter Kraft aus dem Schlamm befördert werden. Wie eigentlich jedes Jahr. Aber das klappte. Der Bus fuhr zurück.
- Der Bus wird fachgerecht gewendet
Foto: RR
Das Gepäck wurde auf Geländewagen verladen und zum Bootsanleger gebracht. Die Motorboote brachten uns auf den Rio Teles Pires. Der Weißwasserfluss ist an dieser Stelle breiter als die Donau bei Ulm oder (für alle Badener) die Größe des Neckars in Mannheim. Der Zusammenfluss des Rio Cristalino und des Teles Pires war für uns die erste Sensation. Hier trifft der Schwarzwasserfluss Rio Cristalino auf den Weißwasserfluss Teles Pires. Das Wasser bleibt flussab über einige Kilometer strikt geteilt. Schwarzes, huminsäurereiches Wasser links und scharf abgegrenzt das helle Wasser des anderen Flusses. Über viele Kilometer wird sich dieses Wasser nur sehr langsam vermischen.
- Der Rio Cristalino bei der Anreise
Foto: PU
Der den Rio Cristalino umgebende Dschungel verschluckte uns. An beiden Ufern erhoben sich die Bäume, Vögel in allen Farben saßen in den Bäumen und wirkten wegen ihrer Farbenpracht ein wenig wie Christbaumkugeln. Mehrere Schilder zeigten an, dass wir uns in ein Schutzgebiet begaben. Die Flusswindungen verdeckten bald den Teles Pires und die Spannung auf unsere zukünftige Unterkunft stieg.
- Anreise mit Booten
Foto: PU
Ein Steg verriet uns, dass wir das Ziel erreicht hatten. Die hölzernen Liegestühle auf dem Steg zeugten von ausgeprägtem Ökotourismus. Wir landeten an und wurden an Festland von der Besitzerin empfangen. Vitória da Riva, eine gepflegte Dame, empfing uns und sorgte sofort für einen tropischen Willkommensgruß. Sie war zusammen mit ihrem Mann und zwei Söhnen extra wegen uns aus São Paulo angereist. Der Besuch der Universität Tübingen zählt für sie zu den jährlichen Besonderheiten, daher lässt sie es sich nicht nehmen, selbst anwesend zu sein.
Die Unterkünfte in den verschieden klassifizierten Bungalows waren sehr gut, und wir konnten uns auf die ersten Einführungsvorträge bereit machen.
- Vortrag von Vitória da Riva Carvalho über die Rio Cristalino Stiftung
Foto: RR
Vormittags und nachmittags wurde jeweils eine Tour unternommen. Mit den lodge-eigenen Guides konnten die verschiedenen Bereiche des Schutzgebietes erkundet werden.
Um jedoch zunächst die Philosophie der Rio Cristalino Jungle Lodge zu verstehen, bekamen wir von Vitória da Riva einen Vortrag über ihre Projekte. Ihr Vater hatte 1974 die Stadt Alta Floresta gegründet (siehe anderer Artikel). Die voranschreitende Zerstörung sorgte jedoch dafür, dass sich die Familie zunehmend für den Erhalt des Regenwalds einsetzte. Durch die gezielte Förderung des Ökotourismus wurde das Schutzideal mit kommerziellem Erfolg gepaart und kann heute auf ein großes Hotel und eine Jungle-Lodge stolz sein. Bereits in den 90er-Jahren kaufte die Familie große Flächen auf und stellte diese unter privaten Schutz. Diese privaten Schutzgebiete sind in Brasilien ein gutes Modell für den Schutz von Lebensräumen. Durch das große Engagement der Besitzerin konnte ihr privates Schutzgebiet durch ein staatliches vergrößert werden und ist nun direkt an das große wenig genutzte Brasil-Air-Force-Areal angegliedert.
Als südlichster Park bildet es das erste Bollwerk gegen die von Süden heranrollende Rodungswelle.
Ökotourismus erfreut sich gerade in Brasilien zunehmender Beliebtheit. Vielfach preisgekrönt ist die Rio-Cristalino-Lodge ein sehenswertes Beispiel. Verschiedene Maßnahmen unterstützen den nachhaltigen und ressourcenschonenden Tourismus. So befindet sich auf der Anlage eine gekoppelte Wurzelstockkläranlage zur Abwasserreinigung, Warmwasser entspringt einer großen Solaranlage, Bioprodukte von regionalen Lieferanten verfeinern die Küche.
Für uns war es ein hervorragendes Beispiel die Funktionsweise eines Musterbetriebs für Ökotoursismus kennen zu lernen. Ganz nebenbei wohlgemerkt, denn unser Hauptaugenmerk galt dem Urwald und seiner Bewohner.
Um die Vielfalt des Dschungels zu erfahren, gab es verschiedene Exkursionen. Jeweils morgens und abends. Francisco, Alfredo und Valdirio waren unsere Guides. Sie taten ihr Bestes und die Artenvielfalt zu vermitteln. Beatrice begleitete Valdirio als Übersetzerin und übertrug die Informationen ins Deutsche.
- Sonnenuntergang auf dem Teles Pires
Foto: RR
Zu den beliebten Aktionen zählte die Bootsexkursion. Diese führte den Fluss weit hinauf. Mit abgeschaltetem Außenbordmotor trieben wir dann den Fluss hinunter. Vögel schauend und Geräusche lauschend. Besonders romantisch wirkte der Sonnenuntergang. Bei Bootstouren lag das Augenmerk auf der Avifauna entlang des Flusses.
- Der Autor beim Selbstversuch mit den „Elektroameisen“
Foto: RR
Der Feigenbaumtrail führte uns durch den Wald, entlang von hunderten Pflanzenarten. Alfredo verstand sich darauf, die Wirkung dieser Pflanzen zu vermitteln. Manche halfen gegen Bauchweh, andere gegen Verletzungen. Selbstversuche waren teilweise gestattet, so hatten die meisten bald eine taube Zunge, nachdem Alfredo sie die Blätter eines besonderen Baums essen lies. Weitere Touren bezogen sich auf Paranussbäume. Diese riesigen Früchte waren für uns unknackbar. Erst Machetenhiebe mit geübter Hand oder Nagezähne des Agutis oder die Schnäbel der großen Aras knackten diese Nuss. Elektroameisen der Art Azteka waren eine Mutprobe. Legte man die flache Hand auf deren Bau, so krabbelten hunderte Tiere über die Hand und sorgten vor stromartige Impulse. Es kribbelte sehr schön. Abschütteln ist in diesem Fall nicht ratsam, denn dadurch verteilen sich die Tiere auf alle Exkursionsteilnehmer. Abreiben hingegen ist mehrfach nützlich. Man bekommt die Tiere los und hat danach eine herrlich duftende Hand. Dieser Duft ist mit einigen Produkten der deutschen Naturkosmetikbranche vergleichbar und hat zwei Wirkungen. Zunächst soll er Mücken abhalten. Das konnten wir leider nicht bestätigen. Die zweite Wirkung bestätigte sich jedoch. Jaguare werden durch den Duft abgehalten, die duftorientierten Großkatzen glauben aufgrund des Geruchs, Ameisen vor sich zu haben. Da sie keine Ameisen fressen, verfolgen sie die Spur nicht weiter. Gut und schlecht für uns. Wir sahen keine Katze – wurden aber auch von keiner gefressen.
Der Höhepunkt des Schutzgebietes sind die beiden Aussichtstürme mit jeweils 50 Metern. Von den früheren Exkursionen wurde bereits der erste Turm genutzt. Uns war es vergönnt, den neuen Turm zu eröffnen. Extra für unsere Exkursion wurde noch ein Zahn zugelegt und schneller gebaut. Edson, der Ehemann von Dona Vitoria hatte diesen Turm der Anlage spendiert. So kam es, dass wir nach einem offiziellen Vertreter der Umweltbehörde und der Familie der Besitzerin die ersten waren, die das Stahlskelett des neuen Turms betreten durften. 50 Meter Höhe in Form eines Märklin-Modellbaukastens sind mit Sicherheit nicht jedermanns Sache. Aber es gelang den meisten die Höhe zu meistern. Von den unterschiedlichen Plattformen aus hatte man Einblick in die verschiedenen Etagen des Regenwaldes. Die höchste Plattform gab einen Rundumblick über die Wipfel des Waldes. Bei Sonnenaufgang ein herrliches Schauspiel. Wir entdeckten von hieraus eine große Anzahl an Arten. Vielmehr als man vom Boden aus sieht. Das Leben des Urwalds spielt sich in den Wipfeln ab, dadurch waren die Türme der ideale Ort zum Beobachten der Fauna des Waldes. Auch die Früchte der Bäume konnten von hieraus bestens gesehen werden. Wir verbrachten viele Stunden mit Spektiv und Fernglas auf den Türmen und übten uns im Beschreiben von Zielen. Die Beschreibung „ …und dann 90° im Bogen nach hinten zu dem Baum…“ war wohl eine der effektivsten.
- 50 m und 40 cm über dem Urwaldboden. Auge in Auge mit den Vögeln.
Foto: Guide
Abends sorgten José und die anderen Angestellten, dass wir nicht hungrig ins Bett mussten. Auch die extra für uns eingeladenen Musikanten sorgten für Karnevalsstimmung im Dschungel. So wurden wir Zeugen typischer música popular brasileira (brasilianische Volksmusik).
Besonderheiten der Tierwelt unseres Urwalds waren immer wieder zu treffen. Sebastião zog aus vielen Löchern die unterschiedlichsten Tiere. Die Geißelspinne wurde vom Objekt zum Abbau von Arachnophobie. Diverse Korallenschlangen oder deren nicht-tödliche Doppelgänger waren da schon mit etwas mehr Zurückhaltung bewundert. Auch die Bisse der 24-h Ameise oder der Buschmeister-Schlange waren zu vermeiden.
An einem Salztümpel klapperte eine große Herde Weißlippenpekaris mit den Zähnen. Wären diese nicht an die Menschen gewöhnt, so wäre eine vertikale oder horizontale Flucht geraten.
Der Rio Cristalino ist bekannt für einige endemische Arten. Das weltweite Verbreitungsgebiet dieser Arten ist auf den Rio Cristalino beschränkt. Ein weiterer Grund, warum die zunehmende Zerstörung solcher Gebiete desaströs für die Artenvielfalt ist. Von den Endemiten des Rio Cristalino konnten wir einige entdecken. So zum Beispiel Pyrrhura perlata Ein kleiner Papagei. Einige Jahre zuvor wurden auf der anderen Flussseite zwei Pfeilgiftfroscharten entdeckt. Bei einer gezielten Suchaktion gelang es uns, einen der beiden Frösche zu finden und fotografisch festzuhalten. Auch sahen wir die ersten Nachtaffen. Zuletzt wurden diese von einer Exkursion vor 6 Jahren gesehen.
- Rainer Radtke (hier als Freilandbiologe) geht bei strömendem Regen mit einem Pfeilgiftfrosch auf Tuchfühlung um das begehrte Foto zu machen
Foto: MS
- Der vor zwei Jahren beschriebende, endemische Pfeilgiftfrosch
Foto: RR
Die Tage in der Rio Cristalino Jungle Lodge vergingen wie im Flug. Die Bootstouren und Landausflüge boten soviel Stoff, dass die Freizeit mit dem Aufarbeiten und Erlebnisaustausch gut gefüllt war.
Leider konnten wir nicht ewig in der Lodge bleiben und verließen sie mit dem nächsten Ziel fest vor Augen. Ein kurzer Abstecher zu einer Paranussplantage brachte uns in unser Hotel in Alta Floresta zurück.
Der letzte Tag unserer Exkursion war wehmütig. Für 16 Teilnehmer war die Exkursion zu Ende. Mit der Trip-Propellermaschiene um 14 Uhr verließen uns: Michael K., Brigitte F, Thomas J., Janine P., Christiane S., Bea L., Mona S. flogen wieder zurück nach Deutschland. Lisa G. nutze die Zeit und flog nach São Paulo um dort an einem sozialen Projekt mitzuarbeiten. Jonas reiste nach Bolivien zurück – Jaguare und billigere Preise lockten dort. So ist unsere Exkursion nun ziemlich geschrumpft. Am Abend reisten noch Senta V., Anne W. und Tatjana S. ab – diese nutzen die freie Woche und reisen über Land nach Porto Alegre, wo wir am 21.3 hoffentlich wieder auf sie treffen werden.
Die letzten 10 saßen am Dschungelrand, schauten wehmütig über den Pool in die untergehende Sonne, der letzte Abend der zoologischen Exkursion war gekommen. Der ideale Grund für ein tolles Abendesse, einen Eisbecher und einen Caipirinha.
Am 13.3. verließen auch wir Alta Floresta. Die Botanische Exkursion mit den Professoren Hampp, Grüninger und Magel erwartet uns für 1 Woche in Rio de Janeiro.
PU
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